Martyrium als Grunddimension orthodoxer Theologie
Liebe Gäste des Symposiums!
Das Martyrium ist eine Grunddimension christlicher Theologie – die Christologie beschreibt mit der Passionsgeschichte in ihrem Kern das Martyrium Christi, zu dem sich ausbreitenden Christentum gehörten Martyrien dazu, praktisch jede nachfolgende Epoche der Kirchgeschichte sollte ihre Märtyrer haben. Wenn ich deshalb in meinem heutigen kurzen Impuls von dem Martyrium als Grunddimension orthodoxer Theologie sprechen möchte, so sollen damit nicht die Martyrien ausgeblendet werden, die sich in der Geschichte anderer Konfessionen ereignet und diese geprägt haben. Wie mir allerdings scheinen will, haben für das 20. und 21. Jahrhundert Martyrien insbesondere für die orthodoxen Kirchen eine Bedeutung gewonnen.
Die Ausstellung, die hier gestern eröffnet wurde, führt zahlreiche Einzelschicksale aus der ehemaligen Sowjetunion vor Augen; unter den Opfern befinden sich nicht nur orthodoxe Gläubige, aber diese machen doch die größte Anzahl aus. Aber nicht nur in der Sowjetunion waren orthodoxe Christen von Repressionen, von Verfolgung und Hinrichtung betroffen. Um den Blick zu weiten, möchte ich kurz auf eine andere Kirche eingehen, eine orientalische orthodoxe Kirche, die in den zurückliegenden Jahren vielfältig Opfer zu beklagen hatte: die Koptische Orthodoxe Kirche.
Die Koptische Orthodoxe Kirche versteht sich ausdrücklich als „Kirche der Märtyrer“; Sie verweist dazu auf ihren – mutmaßlichen – Gründer, den Evangelisten Markus, der im Jahre 68 n. Chr. als Märtyrer gestorben sein soll. Sie verweist dazu auf die vielen Märtyrer im Gefolge der muslimischen Eroberung Ägyptens seit dem 7. Jahrhundert. Sie verweist dazu vor allem aber auch auf die zunehmende Diskriminierung und Terrorisierung der Kopten in Ägypten seit den 1970er Jahren. Ein besonders grausames Attentat wurde durch den sog; „Islamischen Staat“ verübt, der im Dezember 2014 und Januar 2015 koptische Gastarbeiter in Libyen entführte und dann hinrichtete. Die sorgfältig inszenierte Tat wurde gefilmt und im Februar 2015 unter dem Titel „Eine in Blut geschriebene Nachricht an die Nation des Kreuzes“ veröffentlicht; In dem Video ist zu sehen, wie schwarzgekleidete Männer die einheitlich in orangefarbene Overalls gekleideten Opfer an einen Strand zerren. Einer der schwarzgekleideten Männer erklärt: „Wir werden das Meer mit eurem Blut tränken;“ Im Anschluss ist zu sehen, wie die Opfer enthauptet werden;
Die „21“, wie die Opfer bald genannt werden sollten, wurden kurz nach dem Massaker durch den Papst der Koptischen Orthodoxen Kirche, Tawadros II., heiliggesprochen, ihre Namen stehen nun im Synaxarium, dem liturgischen Verzeichnis der koptischen Märtyrer. Auch ist ihnen eine eigene Kirche gewidmet, sie werden auf Ikonen dargestellt.
Als besonders wird an den „21“ herausgestellt, dass sie zum einen bei ihrem Glauben geblieben sind, obwohl ihnen angeboten worden sein soll, dass sie konvertieren können, und dass sie zum anderen den Spott und die Häme, denen sie ausgesetzt waren, und dann auch die Gewalt – dass sie all das geduldig ertragen haben.
Dieses Verhalten hat mich an wichtige Gestalten der russischen Kirchengeschichte erinnert, die dann als „Leidensdulder“ kanonisiert worden sind: vielleicht nicht Märtyrer im strengen Sinne, die sich ausdrücklich zum christlichen Glauben bekannt haben, die sich aber doch im Sinne des christlichen Glaubens in ihr Martyrium widerstandslos ergeben haben.
Dazu gehören in erster Linie die beiden ersten Heiligen der Russischen Orthodoxen Kirche, Boris und Gleb. Sie waren Fürsten der Kiever Rus‘, Söhne Vladimirs, die im Zuge von Auseinandersetzungen um die Thronfolge in Kiev im Auftrag ihres Halbbruders Svatopolk im Jahre 1015 ermordet wurden. Schon bald danach setzte ihre Verehrung als Heilige ein. Bis heute zählen sie zu den bekannten Heiligen, sie sind auf unzähligen Ikonen dargestellt.
In der Tradition von Boris und Gleb ist aber auch die Heiligsprechung von Nikolaus II. und seiner Familie zu sehen, die im Jahre 2000 zusammen mit der Kanonisierung von mehr als 1000 weiteren Personen auf der sog. Jubiläumssynode erfolgte. Nachdem die Kaiserfamilie im Juli 1918 von Bolschewiken in Jekaterinburg wehrlos ermordet worden war, wurde die Familienmitglieder auf der der Jubiläumssynode als „Leidensdulder“ heiliggesprochen.
Ein anderes Verständnis tritt demgegenüber in der sog. Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche zutage, das aus meiner Sicht und zumal im Lichte der jüngsten Ereignisse in der Ukraine problematisch erscheint. Die Sozialkonzeption ist auf der besagten Jubiläumssynode im Jahre 2000 verabschiedet worden und beansprucht für sich, zu allen sozialethisch relevanten Themen eine orthodoxe Stellungnahme zu formulieren. Dazu gehört auch ein !bschnitt zu „Krieg und Frieden“ (Kap; VIII), in dem es gleich zu Beginn heißt:
Als der hl. Apostelgleiche Kyrill von dem Patriarchen Konstantinopels mit einem evangelischen Missionsauftrag entsandt wurde und in die Hauptstadt der Sarazenen kam, hatte er ein Streitgespräch mit den gelehrten Nachfolgern Mohammeds über den Glauben zu bestehen. Unter anderem wurde ihm folgende Frage gestellt: „Christus ist euer Gott; Er hat euch befohlen, für eure Feinde zu beten, denen, die euch hassen und verfolgen Gutes zu tun, denen, die euch auf die rechte Wange schlagen, auch die andere hinzuhalten, und was macht ihr? Wenn jemand euch beleidigt, schärft ihr eure Schwerter, ihr zieht in den Kampf und tötet. Warum hört ihr nicht auf euren Christus?“ Nachdem er sich das anhörte, wandte sich der hl. Kyrill an seine Mit-Disputanten: „Wenn in einem Gesetz zwei Befehle enthalten sind, welcher Mensch würde in vollkommenerer Weise seine Treue zu den Gesetzen bekunden – derjenige, der nur einen, oder derjenige, der beide Befehle erfüllt?“ Als die Muslime sagten, daß derjenige das Gesetz auf vollkommenere Weise erfüllt, der beiden Befehlen nachgeht, fuhr der [heilige Prediger fort: „Unser Gott Christus, der uns befohlen hat, für jene zu beten, die uns beleidigen und ihnen Gutes zu tun, hat auch gesagt, daß in dieser Welt niemand zu größerer Liebe fähig ist als derjenige, der sein Leben für seine Freunde hingibt (Joh 15.13 / Original: 15.3). Eben deshalb erdulden wir großen Herzens Beleidigungen, die uns als Einzelpersonen zugefügt werden, in der Gemeinschaft jedoch verteidigen wir einander und geben unser Leben im Kampf für unsere Nächsten, damit ihr nach der Gefangennahme unserer Mitbürger samt ihren Körpern nicht auch Besitz von deren Seelen ergreift, indem ihr sie zum Abfall vom Glauben und zu gotteswidrigen Taten zwingt. Unsere christusliebenden Soldaten verteidigen mit der Waffe in der Hand die Heilige Kirche, verteidigen den Herrscher, in deren geheiligter Person das Antlitz der Macht des Himmlischen Herrschers verehrt wird, verteidigen das Vaterland, deren Zerstörung unabwendbar den Fall der vaterländischen Macht sowie die Erschütterung des evangelischen Glaubens nach sich zöge. Das sind die erhabenen Ziele, für die die Soldaten bis zum letzten Blutstropfen kämpfen sollen, und wenn sie auf dem Schlachtfeld ihre Seelen fahren lassen, werden sie von der Kirche als Märtyrer heiliggesprochen und als Fürsprecher vor Gott erachtet;“
Hier werden also nicht diejenigen als Märtyrer heiliggesprochen, die bei ihrem
christlichen Glaubensbekenntnis bleiben und sich widerstandslos ergeben,
sondern im Gegenteil diejenigen, die um der Verteidigung ihrer Nächsten und
ihres Vaterlandes willen Gewalt ausüben. Die Notwendigkeit einer solchen
Verteidigung will ich nicht in Abrede stellen. Ich möchte nur fragen und dann
gerne auch mit Ihnen diskutieren: Können wir in diesen Fällen tatsächlich von
Märtyrern sprechen?