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Die Bedeutung des Martyriums in der römisch-

katholischen Kirche


Prälat Prof. Dr. Helmut Moll


Papst Johannes Paul II. (1920-2005) stellte im Jahr 1994 zur Vorbereitung auf das große

Jubiläum des Jahres 2000 fest, dass die Kirche "am Ende des zweiten Jahrtausends erneut zur

Martyrerkirche" 1 geworden war. „In unserem Jahrhundert sind die Martyrer zurückgekehrt,

häufig unbekannt, gleichsam ‚unbekannte Soldaten‘ der großen Sache Gottes. Soweit möglich

dürfen ihre Zeugnisse in der Kirche nicht verloren gehen. Wie beim Konsistorium empfohlen

wurde, muss von den Ortskirchen alles unternommen werden, um durch das Anlegen der

notwendigen Dokumentationen nicht die Erinnerung zu verlieren an diejenigen, die das

Martyrium erlitten haben.“2


"Das ist ein Zeugnis, das nicht vergessen werden darf" 3 , betonte der polnische Papst, um an

die Anfänge der Kirche und das Zeugnis der Martyrer zu erinnern. "Die Kirche des ersten

Jahrtausends ist aus dem Blut der Martyrer entstanden: 'Sanguis martyrum – semen

christianorum'. Die geschichtlichen Ereignisse im Zusammenhang mit der Gestalt Konstantins

des Großen hätte niemals eine Entwicklung der Kirche, wie sie im ersten Jahrtausend eintrat,

gewährleisten können, wenn es nicht jene Martyrersaat und jenes Erbe an Heiligkeit gegeben

hätte, die die ersten Christengenerationen kennzeichnen." 4 Johannes Paul sah in dem Zeugnis

der Martyrer, die das Opfer Christi in ihrer Zeit vergegenwärtigten, einen festen Bezugspunkt

für den Weg der Kirche in das dritte Jahrtausend.


I. Die Entwicklung lehramtlicher Kriterien des Martyriums


Bereits in der Heiligen Schrift finden sich grundlegende Kriterien zur theologischen

Bestimmung des Martyriums. Basierend auf den Gottesknechtsliedern des Propheten Jesaja


1

Apostolisches Schreiben Tertio millennio adveniente von Papst Johannes Paul II., Nr. 37, in: AAS 87 (1995) 29.

Ebd.

3

Ebd.

4

Ebd. 22



(Jes 42,1-4; 49,1-6; 50,4-11; 52,13-53,12) sowie den Makkabäerbüchern, insbesondere der

Perikope der standfesten Mutter mit ihren sieben Kindern (2 Makk 7,1-42), versteht sich das

Neue Testament als Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen. Jesus Christus ist der „treue

Zeuge“, der „uns durch sein Blut von unseren Sünden erlöst hat“ (Offb 1,5). Die griechischen

und lateinischen Kirchenväter vertiefen diesen Gedanken, insbesondere Augustinus von

Hippo (354-430). 5 Im Mittelalter präzisierte der Dominikanertheologe Thomas von Aquin

(1225-1274) in seiner Summa theologica die sich herausbildenden Merkmale zur Bestimmung

des Martyriums. 6


1. Kriteriologie


Mit der Gründung der Ritenkongregation durch Papst Sixtus V. (1521-1590) im Jahre 1589 und

dem Erlass gesetzlichen Bestimmungen zur zentralen Regelung der Kanonisationsverfahren

durch Papst Urban VIII. (1568-1644) entwickelte sich auch eine lehramtlich verbindliche

Kriteriologie zur Bestimmung des Martyriums. 7 Bis heute theologisch und kirchenrechtlich

bindend sind die von dem Kanonisten Prospero Lambertini (1675-1758), dem späteren Papst

Benedikt XIV., in seinem Werk Opus de servorum dei beatificatione, et beatorum

canonizatione grundgelegten Kriterien. 8 Die entscheidenden drei Merkmale sind: die Tatsache


5

Weiterführend H. Delehaye, Les origines du culte des martyrs = Subsidia Hagiographica 20 (Brüssel ²1933); H.

Musurillo, Acts of the Christian Martyrs (Oxford 1972); Th. Baumeister, Die Anfänge der Theologie des

Martyriums = Münstersche Beiträge zur Theologie 45 (Münster 1980); A. M. Schwemer, Prophet, Zeuge und

Märtyrer. Zur Entstehung des Märtyrerbegriffs im frühesten Christentum, in: ZThK 96 (1999) 320-350; J. W.

van Henten, Art. Martyrium II, in: RAC 24 (2012) 300-325; Märtyrerliteratur hg., eingeleitet, übersetzt und

kommentiert von H. R. Seeliger und W. Wischmeyer = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der

altchristlichen Literatur. Bd. 172 (Berlin 2015).

6

Thomas von Aquin, S. th. II-II qu. 64 art. 5, s.c.; vgl. U. Horst, Thomas von Aquin. Predigerbruder und Professor

(Paderborn 2017).

7

H. Moll, Art. Seligsprechungsverfahren, in: Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht. Bd. 3 (Paderborn u.a.

2004) 545-547; vgl. F. Veraja, La beatificazione. Storia, problemi, prospettive (Rom 1983); J. L. Gutiérrez, Las

causas de martirio del siglo XX, in: Ius Canonicum 37 (1997) 407-450; St. Samerski, “Wie im Himmel so auf

Erden?“ Selig- und Heiligsprechung in der Katholischen Kirche 1740-1870 (Stuttgart 2002); P. Burschel, Sterben

und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit = Ancien Régime Aufklärung und

Revolution. Bd. 3 (München 2004); R. Rodrigo, Manuale delle cause di beatificazione e canonizzazione (Rom

³2004).

8

P. Lambertini, Opus de Servorum Dei Beatificatione et Beatorum Canonizatione (Prato 1842) Lib. III, cap. 11,1;

vgl. u.a. H. Moll, Katholische deutsche Blutzeugen im Nationalsozialismus, in: ThG 60 (2017) 19; ders,

Theologische Einführung, in: ders. (Hg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz), Zeugen für Christus. Das

deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, (Paderborn u.a., 6., erweiterte und neu strukturierte Auflage

2015), XL; A. Robben, Märtyrer. Theologie des Martyriums bei Erik Peterson (Würzburg 2007) 215-216; Z. J.

Kijas, Il martirio, in: La causa dei Santi. Sussidio per lo Studium. Ed. V. Criscuolo et alii (Vatikanstadt, 4., erw.

Auflage 2018) 55-89; fragwürdig J. I. González Faus, Zeugnis einer Liebe – getötet aus Hass auf die Liebe, in:

Concilium (D) 39 (2003) 48-55, der behauptet, dieses Grundlagenwerk sei "heute überholt" (49).3



des gewaltsamen Todes (martyrium materialiter), das Motiv des Glaubens- und Kirchenhasses

bei den Verfolgern (martyrium formaliter ex parte tyranni) und die bewusste innere Annahme

des Willens Gottes trotz Lebensbedrohung (martyrium formaliter ex parte victimae). 9 Die

Martyrien des 20. und 21. Jahrhunderts sind auf diese drei Hauptkriterien in kluger Weise

anzuwenden.


a) Die Tatsache des gewaltsamen Todes


Ohne die Zusammengehörigkeit der drei Hauptkriterien zu übersehen, steht die Tatsache des

gewaltsamen Todes an der ersten Stelle. Dem Martyrer wird das Leben gewaltsam entrissen.

Er erleidet Gewalt, übt sie allerdings gegenüber dem Verfolger nicht aus. Nach dem Beispiel

des blutigen Todes Christi am Kreuz (vgl. Mk 15,29-37 parr.) vergießt auch der Martyrer sein

Blut aus Liebe zu Christus. Diakon Stephanus und Jakobus, der als erster aus dem

Apostelkollegium den Martyrertod erlitt, stehen in zeitlicher Hinsicht am Anfang. Christen

sollen, so die Erklärung über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils, „bis zur

Hingabe des Blutes“ (DH 14) das Evangelium verbreiten.

Die Tatsache des gewaltsamen Todes wird differenziert ausgefaltet. Im Hinblick auf die

Martyrien in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus und des Kommunismus

weltweit konnte die Tötung sowohl aktiv beispielsweise durch Vergasung, Erschießung,

Erhängen usw. geschehen oder aber sich passiv ereignen durch Entzug von Nahrung und

Flüssigkeit bzw. durch die Nichtbehandlung von Sterbenden auf dem Krankenlager. 10

b) Das Motiv des Glaubens- und Kirchenhasses bei den Verfolgern

Schon Christus hatte die Apostel auf den Hass der Welt vorbereitet. "Wenn die Welt euch

hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt stammen

würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Aber weil ihr nicht von der Welt stammt,

sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt. (…) Wer mich

9

H. Moll (Hg.), Zeugen für Christus, XL.

H. Moll, Katholische deutsche Blutzeugen im Nationalsozialismus, in: ThG 60 (2017) 20.

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hasst, hasst auch den Vater. Wenn ich bei ihnen nicht die Werke vollbracht hätte, die kein

anderer vollbracht hat, wären sie ohne Sünde. Jetzt aber haben sie die Werke gesehen, und

doch haben sie mich und meinen Vater gehasst. Aber das Wort sollte sich erfüllen, das in ihrem

Gesetz geschrieben steht: 'Ohne Grund haben sie mich gehasst‘" (Joh 15,18-19.23-25). Ebenso

hält das Neue Testament den Hass der Ältesten als Reaktion auf die Predigt des Stephanus wie

folgt fest. "Als sie das hörten, waren sie in ihrem Herzen auf Äußerste über ihn empört und

knirschten mit den Zähnen gegen ihn" (Apg 7,54). Der Hass als Reaktion auf Christus selber

und die Vergegenwärtigung seines Kreuzesopfers im Zeugnis der Martyrer zieht sich durch die

gesamte Geschichte der Kirche.


c) Die bewusste innere Annahme des Willens Gottes trotz Lebensbedrohung seitens des

Opfers


Das Kriterium der "bewussten innere Annahme des Willens Gottes trotz Lebensbedrohung

seitens des Opfers" führt in das Innerste des Lebens Christi. "Vater, wenn du willst, nimm

diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen" (Lk 22,42) betete

Jesus am Ölberg nachdem er den Abendmahlssaal verlassen hatte. Beim Evangelisten

Matthäus heißt es: "Wieder ging er weg, zum zweiten Mal, und betete: Mein Vater, wenn

dieser Kelch an mir nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, geschehe dein Wille"

(Mt 26,42). Vor dem unmittelbaren Verrat durch den Kuss des Judas, der Christi Schicksal

unwiderruflich bestimmte, steht die Annahme und Zustimmung des Gottessohnes. Sie ist

konstitutiv für die Kriteriologie des Martyriums. Mit der Bereitschaft, für Christus zu leiden

und sogar zu sterben, geht die gnadenhafte Überwindung der natürlichen Todesfurcht einher.

Bischof Augustinus schrieb diesbezüglich: „Die Liebe dessen, der die Schafe Christi weidet,

muss so in uns brennen, dass sie sogar die natürliche Todesfurcht überwindet, die uns vor dem

Tod zurückschrecken lässt, obwohl wir bei Christus sein möchten.“ 11

11

Augustinus, Tractatus in Joannis Evangelium 123, Cap. 5 (PL 35, 1968).