Wie die Kirche Bernhard Lichtenberg als Märtyrer anerkannte
Von Gotthard Klein
22. Oktober 2022 13:30 Uhr
I. Ein leidenschaftlicher Seelsorger in Berlin
Der 16. November 1943 war ein trüber Herbsttag in Berlin. Das Thermometer kletterte nicht über 3° C. 20 mm Niederschlag wurden in Dahlem gemessen. An diesem Dienstagmorgen – die Luftkriegslage hatte sich trügerisch beruhigt – es war 48 Stunden vor dem Beginn der massierten Bombenangriffe auf Berlin – strömten Scharen von Menschen auf den Friedhof in der Liesenstraße. Nach einer eher konservativen Einschätzung im Reichskirchenministerium waren es mehr als 5000 an der Zahl, die den Priester Bernhard Lichtenberg zu Grabe trugen. Auf den Tag genau sechs Jahre zuvor hatten die Domherren Lichtenberg zum Dompropst gewählt. Die „Dignitas post Pontificalem major“, den zweiten Rang nach dem Bischof bekleidete seitdem ein katholischer Priester, der an der Wende zum 20. Jahrhundert aus Schlesien nach Berlin gekommen war. Sein Leben und Wirken ist Ihnen bereits auf einer der Ausstellungstafeln begegnet, so daß wir uns mit einigen Stichworten begnügen können:
Geboren wurde Bernhard Lichtenberg 1875 in Ohlau als Sohn eines „kleinen Kaufmanns“. In Distanz zum preußischen Obrigkeitsstaat wuchs er während des „Kulturkampfes“ in einer kirchlich stark verwurzelten katholischen Familie auf. Nach dem humanistischen Abitur studierte er Theologie in Innsbruck und Breslau. 1899 wurde er von Kardinal Kopp zum Priester geweiht. Nach einer ersten Anstellung als Kaplan in Neisse war er dann seit dem Sommer 1900 ohne Unterbrechung in der Reichshauptstadt tätig: zunächst als Hilfsgeistlicher in Friedrichsberg-Lichtenberg (1900–1902), in Charlottenburg (1902–1903) und in der Luisenstadt (1903–1905). Nach diesen pastoralen Lehrjahren übernahm der noch nicht ganz dreißigjährige Geistliche seine erste selbständige Seelsorgestelle als Kuratus und Kirchenbauer in Friedrichsfelde-Karlshorst (1905–1910); es folgte eine Anstellung in Pankow (1910–1913). Auf Wunsch des Fürstbischöflichen Delegaten wurde er 1913 Pfarrer in Charlottenburg: Herz Jesu mit mehr als 30.000 Katholiken, das war eine der größten – wenn nicht die größte – katholische Pfarrei in Preußen. Trotz unüberwindbar erscheinender finanzieller und personeller Engpässe gelang es Lichtenberg, fünf neue Seelsorgsbezirke abzutrennen. Die für den Kirchbau erforderlichen Gelder trug er zu einem Gutteil auf mehrwöchigen Bettelreisen zusammen. Als Mandatsträger der Zentrumspartei, der er bis zu ihrem Untergang 1933 angehörte, verstand er die politische Interessenvertretung im Stadtparlament als besondere Form priesterlicher Weltverantwortung. Doch läßt er sich im Rückblick nicht auf die Aufgaben eines „kirchlichen Managers“ reduzieren. Das Priestertum blieb die Mitte seiner Existenz. Auszeichnend für ihn war die Verbindung von bekenntnisfroher Frömmigkeit, praktischer Nächstenliebe und politischem Gespür.
Nach der Errichtung des Bistums Berlin wurde er 1931 Domkapitular, 1932 Dompfarrer und 1938 schließlich Dompropst. Im Ordinariat war er zuständig für die weiblichen Ordensniederlassungen, für Alkoholkranke, Konvertiten, Siedler und für die vom nationalsozialistischen Regime als „Nichtarier“ verfolgten Katholiken und ihre Familienangehörigen.
Besonders bekannt geworden ist Lichtenbergs Gebet, das er unter dem Eindruck des Pogroms der „Reichskristallnacht“ in St. Hedwig gesprochen hat: „Was gestern war, wissen wir. Was morgen ist, wissen wir nicht. Aber was heute geschehen ist, haben wir erlebt. Draußen brennt der Tempel. Das ist auch ein Gotteshaus.“ In der Folge hat er jeden Abend für die „schwer bedrängten nichtarischen Christen und Juden“ wie auch für alle anderen Notleidenden und Verfolgten öffentlich gebetet – in der Kathedrale, nur wenige hundert Meter von der Reichskanzlei entfernt.
In einer Einschätzung des Sicherheitsdienstes der SS von April 1940 galt er als „ein fanatischer Kämpfer für die kath[olische] Sache und ein ebenso fanatischer Gegner des Nationalsozialismus, der für ihn Häresie und Gottlosigkeit zugleich ist. Seine Hauptarbeit bestand in der letzten Zeit in der Organisation eines Hilfswerkes für nichtarische Christen, denen er […] die Ausreise aus Deutschland erleichtern und ermöglichen wollte.“
Aufgerüttelt durch Bischof Galens „Brandpredigt“ protestierte Lichtenberg 1941 gegen die „Euthanasie“-Morde an körperlich und geistig Behinderten: „[A]uf meiner priesterlichen Seele liegt die Last der Mitwisserschaft an den Verbrechen gegen das Sittengesetz und das Staatsgesetz. Aber wenn ich auch nur einer bin, so fordere ich doch von Ihnen, Herr Reichsärzteführer, als Mensch, Christ, Priester und Deutscher Rechenschaft für die Verbrechen, die auf Ihr Geheiß oder mit Ihrer Billigung geschehen, und die des Herrn über Leben und Tod Rache über das deutsche Volk herausfordern.“
Für das Christkönigsfest bereitete er eine Kanzelvermeldung vor, die sich gegen eine anonyme – tatsächlich aber von der NSDAP reichsweit verbreitete – Flugschrift richtete: „In Berliner Häusern wird“, so schrieb Lichtenberg, „ein anonymes Hetzblatt gegen die Juden verbreitet. Darin wird behauptet, daß jeder Deutsche, der aus angeblicher falscher Sentimentalität die Juden irgendwie unterstützt, und sei es auch nur durch ein freundliches Entgegenkommen, Verrat an seinem Volke übt. Laßt Euch durch diese unchristliche Gesinnung nicht beirren, sondern handelt nach dem strengen Gebote Jesu Christi: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ “ Zur Vermeldung kam es nicht mehr, da Lichtenberg von der Gestapo „wegen staatsfeindl[icher] Betätigung“ festgenommen wurde. Im Verhör bekannte er in aller Offenheit, „daß ich die Evakuierung [… der Juden] innerlich ablehne, weil sie gegen das Hauptgebot des Christentums gerichtet ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘, und ich erkenne auch im Juden meinen Nächsten, der eine unsterbliche, nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffene Seele besitzt. Da ich aber diese Regierungsverfügung nicht hindern kann, war ich entschlossen, deportierte Juden und Judenchristen in die Verbannung zu begleiten, um ihnen dort als Seelsorger zu dienen. Ich benutze diese Gelegenheit, um die Geheime Staatspolizei zu bitten, mir diese Erlaubnis zu geben.“ Auch später erklärte Lichtenberg mehrfach seine Bereitschaft, ins „Ghetto Litzmannstadt“ (Lodz) zu gehen. Die Gestapo hatte diese Möglichkeit vage in Aussicht gestellt, aber nicht ernsthaft erwogen.
Nach zwölf langen Tagen in Polizei-Gewahrsam erließ der Amtsrichter Haftbefehl. Lichtenberg kam in Untersuchungshaft. Gegen den Haftbefehl legte er Beschwerde ein, die aber vom Sondergericht zurückgewiesen wurde. Durch das öffentliche Gebet habe Lichtenberg den „öffentlichen Frieden gestört“. Die in dem Gebet sich äußernde Kritik an staatlichen Maßnahmen sei zugleich „hetzerisch“. Lichtenberg sei des Vergehens gegen das Heimtückegesetz in zwei Fällen und des Kanzelmißbrauchs in einem Falle dringend verdächtig und seine Inhaftierung daher geboten, „weil nach der Einlassung des Beschuldigten anzunehmen sei, daß er die Freiheit zur Wiederholung der Straftat mißbrauchen wird, und es bei der Schwere der Tat nicht erträglich wäre, den Beschuldigten in Freiheit zu lassen.“ Dem Bericht des Generalstaatsanwalts entsprechend ordnete der Justizminister die Strafverfolgung an. Im Mai 1942 verurteilte das Sondergericht I beim Landgericht Berlin Lichtenberg „zu 2 Jahren Gefängnis“ – die Polizei- und Untersuchungshaft wurde angerechnet – und zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 1185 RM. Gegen das Urteil des Sondergerichts war kein Rechtsmittel zulässig. Die Zahlung der staatlichen Bezüge wurde eingestellt. Lichtenberg kam ins Gefängnis nach Tegel und verblieb hier – mit Ausnahme der Lazarettaufenthalte – bis zum Ende der Haft. Ende September 1943 konnte der Berliner Bischof eine Grußbotschaft des Papstes persönlich übermitteln: „Es hat Uns ... getröstet“, schrieb Pius XII., „daß die Katholiken, gerade auch die Berliner Katholiken, den sogenannten Nichtariern in ihrer Bedrängnis viel Liebe entgegengebracht haben, und Wir sagen in diesem Zusammenhang ein besonderes Wort väterlicher Anerkennung wie innigen Mitgefühls dem in Gefangenschaft befindlichen Prälaten Lichtenberg.“
Sein Gesundheitszustand hatte sich während der Haft infolge mangelhafter Ernährung und aufregender Alltagsumstände entscheidend verschlechtert. Noch am Tage der vorgesehenen Entlassung befand er sich im Gefängnislazarett in einem sehr schlechten Allgemeinzustand. Er wurde aber nicht entlassen, sondern der Gestapo „rücksistiert“ und in das Arbeitserziehungslager Wuhlheide gebracht. Das Reichssicherheitshauptamt verfügte wegen „staatsfeindliche[n] Verhalten[s]“ die Einweisung in das Konzentrationslager Dachau, obwohl Lichtenbergs besorgniserregender Gesundheitszustand aktenkundig war. Die mehrfach durch Bischof Wienken, den Unterhändler des Episkopats, vorgetragenen Anträge des Berliner Bischofs, Lichtenberg – der „vom Tode gezeichnet“ sei – in ein Krankenhaus verlegen zu lassen, wurden von der Gestapo ignoriert. Mit einem Sammeltransport traf der „Schubgefangene“ Lichtenberg am 3. November 1943 in Hof ein. Am nächsten Morgen wurde er wegen seines lebensbedrohlichen Gesundheitszustandes „gefängnisärztlich“ in das Stadtkrankenhaus in Hof überwiesen. Dort ist er 5. November 1943 gegen 18 Uhr verstorben.
Als Toter entkam Lichtenberg dem Zugriff der Gestapo, die ihn bereits in Dachau vermutete. Sein Leichnam wurde nicht eingeäschert, sondern wider Erwarten freigegeben und dann auf Initiative des Bischofs nach Berlin gebracht und nach einem Pontifikalrequiem in St. Sebastian auf dem Friedhof in der Liesenstraße beigesetzt.
II. Fama sanctitatis
„In unser[e]n Tagen ist es nicht mehr möglich, zum Märtyrer zu werden. […] Wir machen es so, daß Leute dieser Art vergessen werden“, hatte Heinrich Himmler 1941 prognostiziert. „Nicht Märtyrer, sondern Verbrecher“ zu schaffen, war das erklärte Ziel des Regimes. Von Amts wegen wurde Lichtenberg nicht als Christ, nicht als Priester verfolgt. Zu einem öffentlichen Kultakt wurde er nicht gezwungen; ein Weihrauchopfer vor dem Hitlerbild wurde nicht von ihm verlangt. Die Verfolgung vollzog sich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den „kompromißlose[n] Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“, der „die Öffentlichkeit beunruhigt“, gegen den „Greuellügner“, den „üble[n] Hetzer und Staatsfeind“. Damit war Lichtenberg dem Vorwurf ausgesetzt, die Kanzel und selbst das Gebet in politischer Absicht mißbraucht zu haben. Sein Handeln war damit in ein Zwielicht getaucht, sein Leiden schien um seine Würde gebracht. Seinem Tod in Hof fehlte sicherlich der Glanz des Martyriums römischer Christen, die vor der klaren Alternative: Kaiseropfer oder Tod standen. Doch schon gläubige Zeitgenossen haben das Opfer des Lebens, das Lichtenberg gebracht hat, als Zeugnis für Christus gedeutet. Ihr Gedenken hat den Untergang des nationalsozialistischen Regimes überdauert: die damnatio memoriae war mißlungen. Nach Kriegsende fand Lichtenbergs exemplarische Bewährung als Mensch, Christ, Priester und Glaubenszeuge über den kirchlichen Raum hinaus einige Beachtung. Mochten Evakuierung, Flucht und Vertreibung den Zusammenhalt der Katholiken an Lichtenbergs ehemaligen Wirkungsstätten behindert oder auf Dauer unterbrochen haben, so mehrten sich dennoch Berichte von Gläubigen, die davon überzeugt waren, daß ihnen auf Lichtenbergs Fürsprache hin geholfen worden sei, etwa durch außergewöhnliche Heilung von Krankheit oder durch Befreiung in auswegloser Lage. Die fama sanctitatis post mortem verstummte nicht mehr.
Die erste – und immer noch lesenswerte – Lichtenberg-Biographie stammte aus der Feder von Alfons Erb, sie erschien 1946 wegen großer Nachfrage sofort in zwei Auflagen. Das Bischöfliche Ordinariat bestimmte Lichtenbergs Todestag, den 5. November, als diözesanen Gedenktag für die Priester und Laien, „die der nationalsozialistischen Christenverfolgung […] zum Opfer gefallen“ waren. 1950 erhielt sein Grab eine neue Gestalt in der Ruhestätte des Berliner Domkapitels. Auf dem Grabkreuz stand nun die Paraphrase von Psalmvers 45(44),8 eingemeißelt: „Er liebte die Gerechtigkeit und haßte das Unrecht“.
Eine weitere Gedenkinitiative entstand in Berlin-Tegel. Die pastoral notwendige Gründung einer neuen Seelsorgestelle ließ sich mit dem Vorhaben verknüpfen, eine Bernhard-Lichtenberg-Kapelle zu errichten. Dieser Doppelaufgabe nahm sich Lichtenbergs ehemaliger Kaplan Franz Müller an, der auch in West-Deutschland für das Vorhaben fleißig kollektierte. Schon bald konnte eine stattliche Kirche fertiggestellt werden – symbolträchtig in unmittelbarer Nähe des Tegeler Gefängnisses gelegen. Von Kardinal Döpfner 1960 dem hl. Bernhard von Clairvaux geweiht, trägt sie inoffiziell den Titel „Bernhard-Lichtenberg-Gedächtniskirche“.
Auch der Deutsche Katholikentag, der 1952 erstmals in Berlin stattfand, gedachte in einer eigenen Veranstaltung der Blutzeugen aus jüngster Vergangenheit. Bischof Weskamm kündigte an, in der Nähe der Hinrichtungsstätte Plötzensee eine Gedenkkirche errichten zu wollen. Mit finanzieller Unterstützung aller westdeutschen Diözesen entstand in den Jahren 1960 bis 1963 die avantgardistische Kirche „Maria Regina Martyrum“. In der Krypta war eine Grabstätte für Bernhard Lichtenberg vorgesehen. Das Grab blieb aber leer. Das Präsidium der Volkspolizei in Ost-Berlin untersagte 1962 die Überführung der sterblichen Überreste Lichtenbergs über die Sektorengrenze nach West-Berlin, „da auch die Katholiken des Demokratischen Berlin und der Deutschen Demokratischen Republik, in deren Bereich der Dompropst gewirkt habe, ein Anrecht darauf hätten, die Grabstätte dieses bedeutenden Mannes besuchen zu können“. Genau das aber war nach dem Bau der „Berliner Mauer“ immer seltener möglich. Der Hedwigs-Friedhof, der bis an die Grenzbefestigungsanlagen der DDR reichte und in großen Teilen sogar zugunsten des berüchtigten „Todesstreifens“ eingeebnet worden war, blieb nur einige wenige Stunden in der Woche für Angehörige der dort Bestatteten erreichbar. Der Zugang zu Lichtenbergs Grab war erheblich erschwert und zeitweilig unmöglich. Seine sterblichen Überreste wurden daher 1965 exhumiert und in die Hedwigs-Kathedrale übergeführt.
III. Impulse
Schon Kardinal Julius Döpfner war 1959 davon überzeugt, daß Lichtenberg „einen so großen, treuen Weg [bis hin zu seinem heldenhaften Ende] an der Seite des Gekreuzigten“ gegangen sei, „daß wir mit guten Gründen an eine Bestätigung der Kirche durch die Seligsprechung denken können. Aber […] so etwas will aus katholischem Glaubensgeist erbetet werden.“ Die einschneidenden Folgen des „Mauerbaus“ waren dem Projekt eines langwierigen Seligsprechungsverfahrens alles andere als förderlich. Hatten denn nicht die vergeblich unternommenen Versuche, Lichtenbergs Gebeine über die Sektorengrenze zu überführen, gezeigt, wie schwierig sich das Vorhaben gestalten würde? Mußte nicht – hier an der „Nahtstelle der Systeme“ – mit weiteren Einflußnahmen durch das realsozialistische Regime gerechnet werden? Wie war dem angemessen zu begegnen? Und überhaupt: War das Diasporabistum mit diesem Vorhaben nicht personell und finanziell überfordert?
Döpfners Nachfolger im Bischofsamt Alfred Bengsch war eher skeptisch. Während der dritten Konzilsperiode faßte er dann doch den Entschluß zum Handeln. Ein Anstoß von außen – und zwar aus dem benachbarten Erzbischöflichen Amt Görlitz – gab den Ausschlag. Spiritus rector war der Pfarrer in Senftenberg Heribert Titze. Lichtenbergs Martyrium schien ihm geradezu ein exemplarisches Vorbild für die Kirche in der konziliaren Umbruchszeit zu sein, wie Titze auf einer Werktagung der Unio Apostolica ausführte. Und er hatte eigens zwei Gebete entworfen. Darin heißt es:
„Auch
unserer Zeit hast Du das Zeugnis der Heiligen nicht vorenthalten,
sondern die Kirche der Gegenwart durch viele Martyrer ausgezeichnet.
– In unserer Heimat ist besonders der Opfertod des Berliner
Dompropstes Bernhard Lichtenberg von vielen Gläubigen beachtet
worden. – Er hat sein Leben hingegeben für das Gebot der
Liebe, das die Menschen aller Rassen und Religionen umschließt.
Er betete für die verfolgten Juden und für alle ungerecht
Gefangenen. Er verteidigte unerschrocken das Evangelium gegen alle
Gewalttat. Als getreuer Hirt opferte er alle Jahre seines
priesterlichen Wirkens in Gebet und Seeleneifer für die Seinen
hin.
Darum bitten wir Dich, lass Deinen Diener Bernhard die
Ehre der Altäre zuteil werden und uns durch die Kirche
bestätigen, daß er uns als bleibendes Zeugnis, als Vorbild
der Nachfolge und als Schutzpatron in allen Glaubenskämpfen
gesandt ist.“
Und Titze hatte auch Listen vorbereitet. Da konnten sich die Zuhörer eintragen und für die Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens votieren. 40 der 42 anwesenden Priester unterschrieben. Das war mehr als die Hälfte des Görlitzer Klerus. Die Voten sandte Titze an den Ortsordinarius. Kapitelsvikar Gerhard Schaffran unterstützte das Vorhaben, besprach die Angelegenheit in Rom am Rande einer Konzilssitzung mit Bengsch und stieß bei ihm auf „keinen grundsätzlichen Widerspruch“ mehr. Bengsch suchte dann seinerseits Rat bei der Ritenkongregration. Die Überlegungen kreisten um die Frage: Würde sich Lichtenbergs Martyrium eindeutig nachweisen lassen? Er war doch nicht direkt und unmittelbar um seines Glaubens an Christus willen von blutrünstigen Schergen getötet worden. Blut war in diesem Falle gar nicht geflossen. Hatte unter diesen Umständen ein Seligsprechungsverfahren überhaupt Aussicht auf Erfolg – zumal die von Hochhuth dramatisch angeheizte Debatte über die Verstrickung der katholischen Kirche Lichtenbergs Zeugnis aus dem historischen Kontext zu lösen und ihn als singuläre Gestalt zu isolieren drohte. Bestand dann nicht die Gefahr, daß Lichtenbergs einzigartiger Widerstand als Vorwurf gegen die Kirche selbst instrumentalisiert würde? (An Versuchen, ihn postum vor den „antifaschistischen Karren“ zu spannen, hat es dann auch nicht gefehlt.)
Durch die römischen Experten letztlich ermutigt, gab Bengsch schließlich seine Zurückhaltung auf. In Berlin rührte sich auf einmal – die Aktivitäten in der Provinz waren wohl nicht verborgen geblieben – das Domkapitel. Das Ordinariat regte eine Unterschriftenliste an. Franz Müller nahm die Organisation in die Hand. Innerhalb weniger Tage kamen fast 9.000 Unterschriften zusammen.
IV. „Der andere Prozeß um Bernhard Lichtenberg“
Im April 1965 eröffnete Erzbischof Bengsch das Vorverfahren zum Seligsprechungsprozeß. An sich wäre der Bamberger Ordinarius in der Pflicht gewesen, da Lichtenbergs Märtyrertod sich auf seinem Territorium zugetragen hatte. Doch erhielt Berlin die Zuständigkeit. Bengschs Antrag hatte in Rom erwartungsgemäß überzeugt. Lichtenberg habe keine besonderen Beziehungen zur Bamberger Erzdiözese unterhalten, sein Tod sei eher zufällig in Hof erfolgt. Die Erinnerung an ihn blühe dagegen in Berlin. „Memoria autem ipsius viget Berolini.”
Das
Verfahren nahm seinen Anfang. Die Gläubigen wurden in einem
Kanzelwort aufgefordert,
alle nicht veröffentlichten Schriften einzureichen,
sachdienliche Angaben zu machen und etwaige Einwände gegen den
Kandidaten oder das Verfahren zu melden.
Seligsprechungsprozesse
verlaufen zweistufig: zunächst im zuständigen Bistum und
dann an der Kurie in Rom; sie lassen sich in zwei verschiedene Typen
einteilen: in Märtyrer-Prozesse und Nicht-Märtyrer-Prozesse.
Letztere heißen im kirchenrechtlichen Jargon: Tugendprozesse.
In ihnen wird untersucht, ob ein Nichtmärtyrer sich durch
heroische Tugendübung ausgezeichnet habe. [Papst Franziskus
führte 2017 einen dritten Typ ein: „die
Hingabe/Selbsthingabe des Lebens“ (oblatio
vitae).]
In
Berlin versuchte man nun aber die Quadratur des Kreises. Um ganz
sicher zu gehen, führte man auf dieser ersten Stufe den Prozeß
zugleich als Märtyrer-, wie auch als Tugendprozeß.
In
Rom hatte man dem Berliner Erzbischof den Generalpostulator der
Gesellschaft Jesu empfohlen. Wenn einer in der Lage sei, das
Verfahren erfolgreich zu betreiben, dann würde es Pater Molinari
sein. Er hatte einen grundlegenden Traktat über die Heiligen
geschrieben und das Kapitel VII der dogmatischen
Konstitution über
die Kirche „Lumen
gentium“
konzipiert. Nach
einer ersten Sichtung der Unterlagen in Berlin übernahm Molinari
schließlich das Amt des Postulators.
Zu seinem Stellvertreter in Berlin bestellte er den Jesuiten Walter
Hruza, der sich um die Förderung des Priesternachwuchses
kümmerte. Der Postulator mußte alle Schriften des Dieners
Gottes
zusammentragen, Zeugen benennen und die Articuli
ausarbeiten, über welche die Zeugen befragt wurden. Schließlich
hatte er auch die finanziellen Mittel für das Verfahren
bereitzustellen und zu verwalten. Die Hauptlast der Arbeit trug „vor
Ort“ das Bistumskonsistorium.
1967 waren die Vorerhebungen abgeschlossen. Beim weiteren Procedere galt es nun, drei Hauptfragen zu klären: Steht Lichtenberg im Rufe eines Märtyrers? Vertrat er in seinen Schriften die Glaubenslehre der Kirche? Und ist ihm bisher von kirchlicher Seite keine unerlaubte Verehrung erwiesen worden?
In den beiden für Ost- und West-Berlin getrennten sogenannten Informativprozessen wurden insgesamt 31 Augenzeugen unter Eid vernommen. Die Aussagen wurden protokolliert. Die Zeugen konnten auch weitere Dokumente beibringen, die nach Prüfung als Beweisstücke zugelassen wurden. 1973 waren die bischöflichen Erhebungen abgeschlossen. Die Akten über alle erfolgten Untersuchungen wurden nun vervielfältigt. Das geschah nicht durch einfaches Fotokopieren. Sämtliche Protokolle wurden abgeschrieben und Seite für Seite notariell beglaubigt.
Die Aktenpakete brachte Pater Hruza versiegelt nach Rom. Die zweite Stufe des Verfahrens konnte beginnen. Die Kongregation für die Heiligsprechungsverfahren ließ die Schriften Lichtenbergs durch zwei Revisoren, von denen keiner den Namen des anderen kennen durfte, auf Verstöße gegen den Glauben oder die guten Sitten prüfen. Die beiden Gutachten fielen sehr positiv aus. Den Voten entsprechend erließ die Kongregation 1976 das Decretum super revisione scriptorum.
Eine erste Verzögerung im Verfahren ergab sich dann aber, als das umfangreiche Material der Informativprozesse ins Italienische übersetzt werden mußte. Die Anfertigung der Übersetzung und ihre Revision kostete viel Zeit. Eine andere Schwierigkeit ergab sich daraus, daß die nachkonziliare Kirche auch die Kanonisationsverfahren grundlegend änderte. An der Vorbereitung dieses Reformwerkes waren die Patres Molinari und Gumpel maßgeblich beteiligt. Sie wollten daher bei ihrem weiteren Vorgehen in der Causa Lichtenberg diese Änderungen abwarten, um später nicht wieder neu beginnen zu müssen. Doch verzögerte sich die Novellierung wider Erwarten um mehrere Jahre und erfolgte erst 1983. Die neue Gesetzgebung wollte im Sinne der Dezentralisation die Diözesanbischöfe stärker in das Verfahren einbeziehen, die Überbetonung der formalen Seite des Verfahrens entgegenwirken und die historisch-kritische Würdigung der Fälle intensivieren. Bisher wurden neben den Aussagen von vereidigten Zeugen Dokumente nur in begrenztem Umfang zugelassen. Die „verfahrenstechnische Meßlatte“ für die Approbation des Martyriums war so hoch gehängt, daß kaum ein Kandidat in der Lage war, die entsprechenden Kriterien durch den sehr komplizierten Nachweis des gewaltsamen Todes aus Glaubensgründen zu erfüllen.
Nur wenige Monate nach Inkrafttreten der neuen Gesetzgebung bestellte die Kongregation Professor Gumpel zum Relator. Die Zusammenstellung des Prozeßmaterials übernahm ein auswärtiger Mitarbeiter. Die Arbeit an dieser Positio zog sich aber länger als erwartet hin. Der Untergang der DDR bot die Möglichkeit, neue Quellen aus der NS-Zeit zu erschließen, die vorher nicht zugänglich waren. Ende 1992 war die dreibändige Positio super martyrio fertiggestellt. Dank einer päpstlichen Sondererlaubnis, die noch Kardinal Meisner erwirkt hatte konnte sie in deutscher Sprache erscheinen.
Nur wenige Monate später, im März 1993, erfolgte die Begutachtung der Positio durch den Glaubensanwalt und acht weitere Konsultoren. Auf Bitten der Kardinäle von Berlin und Köln ernannte Johannes Paul II. ad casum eine Sonderkommission von zwölf Kardinälen und Bischöfen, die in der Lage waren, die Positio in deutscher Sprache zu lesen und zu verstehen. Nach intensiver Beratung schlug diese Kommission im April 1994 vor, Bernhard Lichtenberg als Märtyrer anzuerkennen. Der Papst folgte diesem Votum, erließ das Decretum super martyrio und erkannte Lichtenberg als Märtyrer an. An und für sich hätte die Seligsprechung dann sofort stattfinden können. Aber der Papst plante bereits eine dritte Pastoralreise nach Deutschland. So fand die Seligsprechung zwei Jahre später am 23. Juni 1996 in Berlin im Olympiastadion statt. Zum alljährlichen Gedenktag des Seligen Bernhard Lichtenbergs wurde jeweils der 5. November bestimmt.
V. Auf dem Weg zur Heiligsprechung
Nicht wenige Gläubige betrachten die Seligsprechung zu Recht nur als Etappe, als Vorstufe der Kanonisation und erhoffen sich weitere Schritte in Richtung einer Heiligsprechung des seligen Bernhard. Der Unterschied zwischen universal gültiger Heiligsprechung und lokal begrenzter Seligsprechung besteht natürlich nur hier auf Erden in rechtlicher Hinsicht:
Damit ist zunächst einmal die unterschiedliche Reichweite der Verehrung gemeint. Die Seligsprechung erlaubt eine begrenzte öffentliche Verehrung. Sie ist auf ein Bistum, eine Ordensgemeinschaft oder ein bestimmtes Land beschränkt. Kirchen können in der Regel nicht auf den Titel des Seligen geweiht werden. Eine Heiligsprechung ordnet dagegen den öffentlichen Kult in der gesamten Weltkirche an. Sie hat damit universale Geltung.
Der zweite Unterschied zwischen Selig- und Heiligsprechung betrifft die Unwiderrufbarkeit der päpstlichen Entscheidung: Spricht der Papst einen Menschen heilig, so ist dies ein endgültiges Urteil. Ein solcher unveränderlicher Charakter kommt der Seligsprechung nicht zu. Sie ist grundsätzlich widerrufbar. Der Papst kann sie verändern, wenn er zum Beispiel die Kulterlaubnis ausweitet und erlaubt, daß der Selige auch in anderen Ländern verehrt werden darf.
Und der dritte Unterschied: die Heiligsprechung nimmt der Papst selbst in Rom vor.
Wie die Seligsprechungen sind auch die Heiligsprechungsverfahren langwierig und kompliziert. Die Kirche antwortet mit besonderer Sorgfalt auf die Initiativen des Volkes Gottes, das ja in der fama sanctitatis der erste Richter über die Heiligkeit eines Seligen ist. Mit der Hilfe juristischer Mittel prüft die Kirche, ob die Voraussetzungen vorliegen, Lichtenberg als heilig verehren zu dürfen. Dazu ist der Nachweis eines Wunders erforderlich, das nach der Seligsprechung erfolgte und dem kirchlichen Urteil zufolge auf die Fürsprache des Seligen gewirkt worden ist.